Laura Kuch_____________________________2 September – 1 October 2011

Der Begriff der Wunderkammer, auch bekannt als Kuriositätenkabinett, bezeichnet ein Sammlungskonzept der Spätrenaissance und des Barock, das zunächst an europäischen Fürstenhöfen und später auch in den Häusern von wohlhabenden Bürgen praktiziert wurde. Gesammelt wurden die unterschiedlichsten Naturalien und Artefakte, die beim Betrachter Staunen und Verwunderung hervorrufen sollten: von ausgestopften Gürteltieren, chinesischem Porzellan, exotischen Muscheln, Kirschkernminiaturen, seltene Mineralien und Enzyklopädien bis hin zu alchemistischer Literatur und vermeintlichen Einhornhörnern.

Inszenierung und Inhalt der Wunderkammer richtete sich nach dem individuellen Gusto des Sammlers und spiegelten (s)eine Form der Weltaneignung wieder. So bestückte zum Beispiel August der Starken seine Wunderkammer, das Grünen Gewölbe in Dresden, mit Vorliebe mit aufwändigen Preziosen im Wert ganzer Schlösser und  kostbaren Edelsteinen, darunter ein weltweit einzigartiger Saphir. Diesen hatte er als ein Geschenk von Peter dem Großen erhalten, dessen Sammelvorlieben wiederum ganz andere waren: in seiner Kunstkammer nämlich wurden neben amputierten Gliedmaßen und verkrüppelten Föten auch Zähne aufbewahrt, die der medizininteressierte Monarch seinen Untertanen höchstselbst gezogen hatte.

Doch wie kann eine Wunderkammer im Hier und Heute aussehen, lange nachdem sich die sagenhaften Einhorntrophäen als bloße Stoßzähne des gemeinen Narwals entpuppt haben, nach Entzauberung der Welt durch die Aufklärung und Moderne, aber auch das eigene Erwachsenwerden? In Laura Kuchs zweiter Wunderkammer sind weder Dracheneier noch Zaubertränke zu finden und zum Glück für den Betrachter teilt die Künstlerin weder Zar Peters Faszination fürs Zähneziehen noch fürs Amputieren. Tatsächlich geht es laut Laura Kuch in der Wunderkammer II dennoch sehr wunderlich zu: „Doppelgänger teilen sich einen Raum mit Worten, die nie geschrieben wurden. Ein Geheimnis offenbart sich für die Dauer einer Stunde, während Linien, die sich selbst auslöschen, neben drei Jahren meines Lebens und dem Phantom einer Zeichnung hängen. Der Blick nach draußen führt von der Gegenwart durch die Vergangenheit in die Gegenwart und der Blick nach unten zum letzten Blatt Papier, das seinen Platz im Raum selbst gefunden hat.“

Laura Kuch erlaubt sich noch das Wundern. In ihren künstlerischen Arbeiten experimentiert sie mit den Möglichkeiten Alltägliches, im Sinne von Novalis’ Vorstellung vom Romantisieren [1], in etwas Vielschichtigeres, Auratisches zu wandeln. Mit geradezu lakonischen Gesten ignoriert sie in ihren konzeptuellen Objekte, Installationen, Zeichnungen und Skulpturen willentlich den konventionellen Gebrauch und das Verständnis von Dingen, Materialien und Gemeinplätzen und dem was wir glauben darüber zu wissen. Sie beharrt, wie sie sagt,  „auf deren poetisches und metaphysisches Potential“ und zeigt, nicht ohne Augenzwinkern, „einen Blick auf die Dinge, wie sie auch sein könnten – und es doch eigentlich schon sind“.

Laura Kuch studierte an der HfG Offenbach bei Prof. Heiner Blum und an der Städelschule Frankfurt in der Klasse von Prof. Tobias Rehberger, wo sie 2008 ihren Abschluss als Meisterschülerin absolvierte. Sie lebt in London, wo sie im Rahmen des praxisbezogenen Fine Art PhD Programms der Slade School an ihrer Doktorarbeit arbeitet. In ihrer künstlerischen wie theoretischen Forschungsarbeit untersucht Laura Kuch die Relevanz der deutschen Romantik für zeitgenössisches konzeptuelles künstlerisches Schaffen, im Besonderen im Hinblick auf ursprünglich literarische Methoden wie dem Poetisieren, der romantischen Ironie und dem Fragment.

Wunderkammer II ist bereits Laura Kuchs dritte Einzelausstellung in der Galerie Lorenz.


[1] „Romantisieren ist nichts anderes als eine qualitative Potenzierung [...] Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehn, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich es“ (Novalis, Fragmente, 1798)

„Wunderkammer II“

cv

(please scroll down for english version)

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The notion of a Wunderkammer (cabinet of wonders or curiosities) describes a collection concept from the late Renaissance and Baroque periods which was originally implemented at the European royal courts and later in the houses of prosperous citizens. The collections consisted of a wide range of diverse natural history objects and artefacts which were aimed at giving rise to astonishment and wonder amongst the spectators: from stuffed armadillos, Chinese porcelain, exotic shells, cherry-stone miniatures, rare minerals and encyclopaedias to alchemical literature and alleged unicorn horns.

Presentation and content of the Wunderkammer depended on the collector’s individual taste and reflected a kind of appropriation of the world. For example: August II the Strong filled his treasure chamber, the Grünes Gewölbe (Green Vault) in Dresden, with a preference for valuables as expensive as palaces and precious gems, including a world-wide unique sapphire. This was given to him as a present from Peter the Great who had yet again other preferences for his collection. Apart from amputated limbs and malformed foetuses his Wunderkammer also included teeth which the medically interested monarch had personally extracted from his subjects!

But what can a Wunderkammer of the here and now look like, long after the legendary unicorn trophies turned out to be only the tusks of the common narwhale; after the disenchantment of the world brought about by the Enlightenment and modernity, but also by ones own coming of age? In Laura Kuch’s second Wunderkammer there are neither dragon’s eggs nor magic potions to be found, and fortunately for the observer, the artist shares neither Tsar Peter’s fascination for tooth extraction nor for amputation. But in actual fact, according to Laura Kuch, you’ll still find a lot of wondrous things happening in the Wunderkammer II:  “Doppelgänger share a room with words which have never been written; a secret is revealed for the span of an hour, while lines which erase themselves hang next to three years of my life and the phantom of a drawing. The view outside leads from the present through the past into the present, and the view downwards to the last piece of paper that has found its place in the room by itself.”

Laura Kuch still allows herself to wonder. According to Novalis’s idea of romanticising [1], she experiments in her artistic work with the possibilities of transforming something ordinary into something more complex, auratic. In her conceptual objects, installations, drawings and sculptures she intentionally, with almost laconic gestures, ignores the conventional usage and understanding of things, materials and platitudes and that which we think we know about them. She insists, as she says, “on their poetic and metaphysic potential”, and shows, not without tongue in cheek, “a view of things as they could be – and in fact already are.”

Laura Kuch studied fine art under Prof. Heiner Blum at the HfG Offenbach and in Prof. Tobias Rehberger’s class at the Städelschule in Frankfurt where she qualified as Meisterschülerin  in 2008. She lives in London where she is working on her thesis as a candidate in the practice-related fine art PhD-programme at the Slade School. In both her artistic and theoretical research work Laura Kuch is investigating the relevance of German Romanticism for contemporary conceptual artistic creation, particularly regarding the originally literary methods such as poeticising, romantic irony and the fragment.

Wunderkammer II is Laura Kuch’s third solo exhibition at Galerie Lorenz.

 [1] “Romanticising is nothing more than a qualitative potentialization (…) giving the ordinary a higher meaning, the common a mysterious status, the known the dignity of the unknown, the finite the appearance of infinity, I thus romanitcise it.” (Novalis, Fragmente, 1798)

'Wunderkammer I', installation view, London 2010
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